Stichwort Volkstrauertag
Der Volkstrauertag ist kein kirchlicher Feiertag, sondern ein staatlicher. Die Bundesrepublik Deutschland begeht diesen Tag in zentralen, aber auch lokalen Veranstaltungen. In der Regel sind auch die Kirchen bei diesen Gedenkfeiern präsent. Die Teilnahme an diesen Veranstaltungen ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen, da die Menschen mit direktem Bezug zum letzten Krieg immer weniger werden. Doch haben sich die Gedenkfeiern damit überlebt, sind sie überflüssig geworden?
Nach dem Krieg gegen Frankreich 1870 / 71 war das Gedenken der Gesellschaft an die Gefallenen vor allem von Ruhm und Anerkennung geprägt. Die Trauer der betroffenen Familien trat hinter diese Sichtweise zurück. Dieser Eindruck wurde dadurch noch verstärkt, dass durch diesen Krieg Frankreich Elsass-Lothringen an das neue Deutsche Reich abgeben musste und dass Frankreich nicht unerhebliche Reparationszahlungen an Deutschland zu zahlen hatte. Aus den deutschen Einzelstaaten wurde nach dem Krieg unter Preußischer Führung ein Deutsches Kaiserreich mit einem gestärkten Nationalgefühl. Es wundert also nicht, wenn auf dem Obelisk zum Gedenken an die Gefallenen dieses Krieges in Langstadt steht „… die dankbare Gemeinde …“.
Der erste Weltkrieg begann euphorisch: Die Soldaten zogen mit starkem Nationalgefühl und der Aufschrift „Gott mit uns“ in den durch ungeschickte Äußerungen von Kaiser Wilhelm II. provozierten Krieg. Glaubte man anfangs, in wenigen Monaten alle Feinde besiegt zu haben, so währte der Krieg von 1914 bis 1918. Am Ende waren die Menschen zermürbt vom Krieg und dessen Auswirkungen, so dass es zur Revolution kam und der Kaiser mit allen Landesfürsten abdanken musste.
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Heroische Darstellung vom Krieg 1870/71 und Kaiserreich: Nationaldenkmal Rüdesheim (Postkarte 1895) |
Kriegskarte aus der späten Phase des I. Weltkrieges |
Der Versailler Friedensvertrag kränkte das Nationalgefühl der Deutschen nachhaltig und verlangte zu hohe Reparationszahlungen von einem Land, das zudem noch wichtige Gebiete an Nachbarländer abtreten musste (u. a. Elsass-Lothringen wieder an Frankreich). Die beteiligten Völker hatten zusammen über 10 Millionen Kriegstote und 20 Millionen Kriegsversehrte zu beklagen.
Die vielen Kriegsopfer gaben pazifistischen Gedanken Auftrieb, es gab entsprechende Veröffentlichungen, z. B. von Berta von Suttner oder Carl von Ossietzky. Im Bewusstsein, dass viele ihr Leben im Kriege ließen und viele dabei sehr elend zu Grunde gingen, wurde in der jungen Republik der Volkstrauertag geschaffen, um dem Gedenken Raum zu geben und einen würdigen Rahmen zu schaffen.
1933 begann die Herrschaft der Nationalsozialisten. Das Nationalgefühl wurde erneut stark angefacht. Und obwohl sich Hitler nach außen mühte, seinen „Friedenswillen“ zu betonen, wurden pazifistische Gedanken verfolgt und entsprechende Literatur verbrannt. Aus dem Volkstrauertag wurde ein „Heldengedenktag“ mit martialischen Inszenierungen der Partei und ihrer Gliederungen. Die Opfer des ersten Weltkrieges wurden ob sie wollten oder nicht Teil der Nazi-Propaganda.
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Das Langstädter Mädchen Karola Lichtenstein (geb. 1933) hat die Judenverfolgung nicht überlebt. |
Letztes Aufgebot: Jugendliche wurden in den Krieg geschickt … |
Hitler-Deutschland führte zunächst einen Krieg nach „Innen“: Gegen po litisch Andersdenkende, gegen Juden, Sinti, Roma, gegen Homosexuelle, schließlich auch gegen Kirchenleute, wenn diese die „Herrschaft der Partei“ nicht anerkannten. Ab 1938 expandierte das Deutsche Reich: Einmarsch in Österreich und Übernahme des Sudetenlandes. Ab 1939 begann der zweite Weltkrieg. Sechs Jahre währte dieser Krieg, ein Weltenbrand, der alles Dagewesene weit übertraf. Es gab über 55 Millionen Tote eine unvorstellbare Zahl! Und hinter jedem einzelnen Toten steht ein Schicksal … .
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Kriegsende 1945 (in Bensheim) |
1949 entsteht die Bundesrepublik Deutschland aus den drei Westzonen, aus der sowjetischen Zone dann die DDR. Das, was vormals „Deutschland“ war, musste wieder Land abgeben. Der Blutzoll der Deutschen 1933 - 1945 betrug 6 Millionen Menschen: Soldaten (fast 4 Millionen) und Zivilisten (Kinder, Frauen und Männer), jüdische, christliche und „frei denkende“, politische und unpolitische Deutsche. Ein Volk, das schuldig geworden war an seinen Nachbarn und das Opfer geworden ist durch Vergeltungen. Ein Volk, das Grund zur Trauer hatte über sich selbst und über seine Opfer.
1952 führte die Bundesrepublik Deutschland den Volkstrauertag wieder ein. Ein Tag, der die Gefahr birgt, falsch begangen zu werden. Wir können uns fragen, ob Militärmusik und Militärpräsens bei einer Gedenkfeier angemessen sind. Aber es ist auch ein Tag, der Chancen bietet, in würdiger Form der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, von Terror und Willkür zu gedenken. Er gibt Gelegenheit, uns der Geschichte zu stellen und Trauer zuzulassen. Und er bleibt eine Mahnung, solange es ihn gibt. Auf den Gedenksteinen für die Opfer des 2. Weltkrieges im Langstädter Friedhof heißt es: „Leise Stimmen aus euren Gräbern mahnen zur Versöhnung“. Das ist nicht nur ein Auftrag an die Politik der unmittelbaren Nachkriegszeit! Wir haben ständig aufs Neue Brücken zu bauen und für Verständigung einzutreten. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Opfern von damals und den heutigen Opfern von Krieg, Gewaltherrschaft, Terror und Willkür!
Insofern hat der Volkstrauertag durchaus das Zeug zu einem Antikriegstag, zu einem Tag für die Menschenrechte, einen Tag für das Miteinander der Völker in einer Welt, die gewissermaßen „näher zusammengerückt“ ist. Möglich wären auch neue Formen des Gedenkens, wie z.B. eine Geschichtswerkstatt anzubieten oder Jugendliche zu Zeichnungen oder Collagen zum Themenkreis anzuregen.
Lassen wir uns darauf ein, innezuhalten und nachzudenken:
Über das, was passiert ist und was passiert,
über das, was wir tun und was wir tun könnten.